Tim Meyerjürgens

Für Interkonnektivität bei der Energieversorgung. Für neue, sozial gerechte Wertschöpfungsketten.

Tim Meyerjürgens hat die Zukunft genau vor Augen. Deshalb bringt er Interessengruppen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zusammen, um die Energieübertragung von morgen zu gestalten. Als Chief Operating Officer (COO) von TenneT blickt er dabei auf 29 Jahre Erfahrung in der Energiewirtschaft zurück: Zunächst in unterschiedlichen Funktionen bei PreussenElektra und E.ON Netz in Oldenburg, Bayreuth und Lehrte. Beim niederländischen Unternehmen TenneT übernahm er dann die Verantwortung für die Offshore-Projekte und wurde2019 in den Vorstand der Holding berufen.

Seine verantwortungsvolle Position bei Europas größtem Offshore-Übertragungsnetzbetreiber geht auch auf seine Beteiligung am Aufbau der deutschen Offshore-Projektorganisation zurück. Von Anfang an ist Tim Meyerjürgens von erneuerbaren Energien und deren Integration in das Energiesystem fasziniert. Mittlerweile bringt er sein herausragendes Wissen maßgeblich in die Gestaltung der Europäischen Energiewende ein. Er verantwortet bei TenneT den Bau und Betrieb der Netze in den Niederlanden und Deutschland, sowohl Onshore als auch Offshore sowiegrenzüberschreitende Interconnector-Projekte.

Für Tim Meyerjürgens ist klar: Energieversorgung wird in Zukunft eine zentrale strategische Frage sein. Als weitblickender Vordenker seiner Branche setzt er sich für die konsequente Nutzung und eine globale Vernetzung von erneuerbaren Energien und deren Übertragung ein. Dazu braucht es Respekt voreinander, Frieden, eine Neuausrichtung von Industrien, die Förderung von Kreislaufwirtschaft – und sozial gerechte Wertschöpfungsketten.

Ein Kurzinterview. Auch über Neugier, verbesserte Lebensqualität und eine Welt, in der Gewinnmaximierung und Gemeinwohl kein Gegensatz sind.

Wie sehen Sie die Welt im Jahr 2050, und was wünschen Sie sich?

Im Jahr 2050 werden wir auf eine Gesellschaft blicken, die gerade noch rechtzeitig erkannt hat, dass nicht Kriege, sondern nur der Stopp des voranschreitenden Klimawandels und die weitgehende Teilhabe aller Menschen am Fortschritt, Leben und unseren Wohlstand schützen können. In einer enormen Kraftanstrengung und durch globale Kooperation auf Augenhöhe ist es gelungen, das Weltwirtschaftssystem konsequent auf Nachhaltigkeit, Dekarbonisierung und Zirkularität neu auszurichten. Disruptive Technologien – insbesondere in der digitalen Vernetzung und bei künstlicher Intelligenz – haben diesen Weg maßgeblich geprägt.

Die Energieversorgung wird nach wie vor eine zentrale strategische Frage eines jeden Standorts sein. Als ressourcenarmer Kontinent wird Europa sich hauptsächlich auf erneuerbare Energien wie Sonne, Wind und Wasserstoff konzentrieren. Die hohe Markt- und Infrastrukturintegration kommt dieser Entwicklung entgegen. Die Stromnetze werden diesen neuen Anforderungen durch flexibilisierte Stromnachfrage, Speichertechnologien, Smartness und Digitalisierung gerecht werden. Urbanisierung und technologischer Fortschritt haben es uns ermöglicht, erneuerbare Ressourcen effizient und kostengünstig zu nutzen und die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen drastisch zu reduzieren. Die Mikroelektronik, die von überall steuerbar ist, bietet viele neue effiziente Anwendungen.

In Europa schauen wir auf drei Jahrzehnte nachhaltiger Umsetzungsbemühungen zurück, die nun Früchte tragen: Das Ziel der Klimaneutralität haben wir fast vollständig erreicht, einerseits durch starke Emissionsrückgänge und andererseits durch CO2-Speicherlösungen, wo wir Emissionen produktionsbedingt nicht weiter reduzieren konnten. Maßgeblich für diese Zielerreichung war die sektorübergreifende Elektrifizierung, die sich auf breiter Front durchgesetzt hat – von Mobilität und Wärmebedarf bis hin zu energieintensiven Industrieprozessen. Ein wertvoller Nebeneffekt ist, dass wir dadurch die Luftqualität in der gesamten EU erheblich verbessern konnten und die Lebensqualität in Siedlungsgebieten gestiegen ist.

Die Industrie hat sich stark weiterentwickelt und ist nun sowohl wettbewerbsfähig als auch nachhaltig. Innovationen in Bereichen wie Energieversorgung, 3D-Druck, künstliche Intelligenz und Biotechnologie haben dazu beigetragen, ressourcenschonende Produktionsmethoden zu entwickeln und der Kreislaufwirtschaft zum Durchbruch zu verhelfen. Unseren externen Bedarf an kritischen Rohstoffen, die für Energiewendetechnologien wie Windräder und Speicher essenziell sind, konnten wir dadurch in Europa erheblich reduzieren und eigene Kapazitäten durch Urban Mining erschließen. Wir haben gelernt, radikal neu zu denken und bisher unerschlossenes Potenzial wirtschaftlich nutzbar zu machen.

Die Europäische Union hat sich weiter politisch integriert. Neben Verteidigung und strategischer Autonomie nach außen ist vor allem die Vertiefung der Integration ein wesentlicher Erfolgsfaktor: z.B. von der Kapitalmarktunion für die breite Mobilisierung von privatem Transformationskapital bis hin zum Energiebinnenmarkt. Wir sind zu einem globalen Beispiel für regionale Zusammenarbeit und Frieden geworden. Die Mitgliedsstaaten arbeiten eng zusammen, um die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu bewältigen und gleichzeitig die Werte von Demokratie, Menschenrechten und sozialer Gerechtigkeit zu fördern. Geopolitisch haben wir Europa zu einem ausgleichenden Partner, einem Scharnier für internationalen Frieden und Stabilität zwischen den großen Lagern weiterentwickelt.

Insgesamt herrscht eine Atmosphäre des Fortschritts, der Zusammenarbeit und des Respekts vor unserer Umwelt und unseren Mitmenschen. Diese Grundhaltung ist uns sehr wichtig geworden, denn 2050 haben wir als globale Gemeinschaft erkannt, dass wir die nun spürbaren drastischen Folgen des Klimawandels nur bewältigen werden, wenn wir international eng kooperieren.

Warum macht die Zukunft ein anderes Wirtschaften notwendig?

Es ist nicht nur die Zukunft, die ein anderes Wirtschaften notwendig macht, schon die Gegenwart ist es. Wir wissen heute: Die planetaren Belastungsgrenzen definieren den sicheren Handlungsraum, in dem wir als Menschheit dauerhaft wirtschaften können. In sechs von neun Bereichen haben wir die Belastungsgrenzen bereits überschritten, während wir gleichzeitig feststellen müssen, dass der globale Trend zum grenzenlosen Wachstum anhält. Um dieses Dilemma aus wahrgenommener Grenzenlosigkeit und faktischen Grenzen aufzulösen, reicht es nicht, wenn wir lediglich optimieren. Technologiesprünge und Effizienzsteigerungen können den planetaren Kollaps verzögern, ihn aber nicht verhindern. Ein nachhaltiges Wirtschaftsmodell erfordert deshalb einen holistischen Paradigmenwechsel, der von der Anerkennung planetarer Grenzen ausgeht. Statt nur auf Effizienz und kurzfristigen Gewinn zu setzen, erfordert die Zukunft eine grundlegende Umgestaltung vieler Wirtschaftssektoren, um den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden. Dies umfasst bei weitgehender erneuerbarer Energieversorgung die Neuausrichtung von Industrien, die Förderung von Kreislaufwirtschaft und die Schaffung von sozial gerechten Wertschöpfungsketten.

Neben den planetaren Grenzen sehen wir auch menschlichen Grenzen entgegen. Der demografische Wandel stellt in vielen Teilen der Welt neue Herausforderungen für die Wirtschaft dar, insbesondere im Hinblick auf die Renten- und Gesundheitssysteme. Darüber hinaus wird der Fachkräftemangel zunehmend problematisch. Allein mit finanziellen Anreizen werden wir die Talente der Zukunft nicht gewinnen können. Ein nachhaltiges Wirtschaftsmodell muss daher über rein monetäre Ansätze hinausgehen und die Wünsche der Menschen, etwa nach Bedeutung und Work-Life-Balance, berücksichtigen.

Nicht zuletzt stehen wir vor einer Generationenaufgabe bei der Transformation zu einer nachhaltigen Wirtschaft, die beispiellose Investitionsvolumina erforderlich macht. Mit unseren bisherigen Ansätzen alleine werden wir diesen Finanzbedarf nicht decken können. Wie Einstein einst sagte: Herausforderungen können nicht mit derselben Denkweise gelöst werden, durch die sie entstanden sind.

Erzählen Sie uns bitte von einem Schlüsselerlebnis, das Ihre Weltanschauung verändert hat.

Für mich geht es hier weniger um ein Schlüsselerlebnis. Denn die eigene Weltanschauung wird durch viele Faktoren geprägt, beginnend in der frühen Kindheit, abhängig von unserer Sozialisierung in einem bestimmten Umfeld und unseren Erfahrungen, und sie entwickelt sich ein Leben lang weiter. Wir haben als Menschen die Fähigkeit zu lernen – und das ist unsere Stärke. Kinder sind von Natur aus neugierig und entdeckungsfreudig. Die kindliche Neugierde ist ein wertvoller Antrieb für die Auseinandersetzung mit der Welt und hat bei mir zum Beispiel den Grundstein für meine Begeisterung für die Naturwissenschaften gelegt.

Ich bin in den 1980er Jahren zur Schule gegangen. Bereits damals waren die wesentlichen globalen Entwicklungen in den Schulbüchern nachzulesen: Ein exponentielles Wachstum der Weltbevölkerung mit einem zu erwartenden Ressourcenmangel und eine gleichzeitige Erwärmung des globalen Klimas, was den Ressourcenmangel weiter verschärfen würde. Im Bereich der Energieversorgung war schon damals die Endlichkeit nicht nur der fossilen, sondern auch der nuklearen Energieträger deutlich erkennbar. Die einzig ersichtlichen Lösungen für die Energiefrage waren die Kernfusion und die Nutzung erneuerbarer Energien. Gerade die Simplizität ihrer Nutzung und ihre Verfügbarkeit an jedem erdenklichen und noch so abgelegenen Ort auf dieser Welt haben mich schon damals fasziniert und mich bewogen, mein Studium auf diesen Bereich auszurichten. Als ich Mitte der 1990er Jahre bei einem Energieversorgungsunternehmen begonnen habe, wurden die erneuerbaren Energien noch belächelt und erfahrene Ingenieure haben mir erklärt, warum mehr als 2% Erneuerbare technisch nicht in das Stromnetz zu integrieren sind. Heute wird in Deutschland im Jahresschnitt deutlich über 50% des Stroms durch erneuerbare Energien erzeugt und wir haben bereits die Technologien, das Energiesystem vollständig umzustellen. Es ist noch ein langer Weg, denn neben dem Ausbau der Erzeugungsanlagen benötigen wir auch enorme Investitionen in die Infrastruktur, sprich die Netze, die das Rückgrat dieser Transformation darstellen. Aber ich bin überzeugt, dass uns dieser Wandel gelingen wird und ich bin dankbar, dass ich meinen Teil dazu beitragen kann.

Was sind die für Sie wichtigsten Parameter der Qualitativen Ökonomie? 

Eine qualitative Ökonomie sollte aus meiner Sicht die Schranken eines reinen Shareholder Value-Konzepts verlassen und Interessen anderer Stakeholder, wie Mitarbeiter, Kunden, Lieferanten und der Gemeinschaft als Ganzes berücksichtigen. Wir sollten uns also immer fragen, wie unser ökonomisches Handeln dem Großen und Ganzen dienen kann. Es sollte darauf ausgerichtet sein, die Bedürfnisse unserer Generation zu befriedigen, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden. Dies schließt Umweltaspekte, soziale Belange und wirtschaftliche Stabilität mit ein. Das erfordert eine europäische wie globale Kooperation zwischen Regierungen, Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen und der Zivilgesellschaft, damit wir nachhaltige Lösungen für globale Herausforderungen finden.

Inklusion ist ein weiterer wichtiger Aspekt. Denn jeder sollte die Möglichkeit haben, am wirtschaftlichen Erfolg teilzuhaben, unabhängig von Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit, sozialem Status oder anderen Faktoren. Diese Art der Inklusion und Diversität leben wir bei TenneT und wir tragen damit zur nachhaltigen Stabilität und Dynamik der Wirtschaft bei. Nicht zuletzt sollten wir im Rahmen einer qualitativen Ökonomie die Verbesserung der Lebensqualität aller Menschen zum Ziel haben, indem wir für Lebensstandard sichernde Einkommen, Zugang zu Bildung, hochwertiger Gesundheitsversorgung, bezahlbaren Wohnraum und kulturellen Angeboten sorgen.

Was sollten wir tun, und was sollten wir lassen, um qualitative Ökonomie zu schaffen?

Unser Weg hin zu einer qualitativen Ökonomie sollte auf dem Zieldreieck der nachhaltigen Entwicklung basieren, erweitert um die Dimension der Beschleunigung. Denn die Zeit drängt, damit die Ziele des Pariser Abkommens noch erreicht werden können. Für uns als Übertragungsnetzbetreiber heißt das konkret, dass wir unsere Netze so schnell und kostengünstig wie möglich für das künftige auf erneuerbaren Energien basierende Energiesystem ausbauen. Dafür brauchen wir eine breite Kooperation zwischen Politik, Industrie, Forschung, Investoren, Zivilgesellschaft und Staaten. Denn der Klimawandel ist kein nationales Problem und kann auch nicht nur durch einen einzelnen Sektor gestoppt werden. We only get there, if we all get there.

Nicht zuletzt aus diesen Gründen haben wir als TenneT beschlossen, unsere neuen technischen Standards für viel leistungsstärkere Netzinfrastruktur auch anderen internationalen Netzbetreibern zur Verfügung zu stellen und damit den Nutzen zu sozialisieren. Dies spart Zeit, Geld und verbindet alle relevanten Marktteilnehmer. Wir sollten daher im Rahmen einer qualitativen Ökonomie auch lernen, dass Gewinnmaximierung und Gemeinwohl nicht als Gegensätzlichkeiten verstanden werden. Vielmehr sollten wir langfristig verantwortungsvolle Geschäftspraktiken fördern, die neben Profiten unter Berücksichtigung von ESG-Standards auch positive Beiträge zu einer nachhaltigen Gesellschaft schaffen. Was uns dabei kaum helfen wird, sind kurzfristige Denk- und Strategieansätze, die von falschen Annahmen wie der Unerschöpflichkeit von materiellen Ressourcen oder der unendlichen Aufnahmefähigkeit des Umweltraumes ausgehen.


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